Märchen 68 das Schicksal und das Mutterherz
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Das Schicksal und das
Mutterherz
Er trank gierig die kleinen
Schlucke, die ihm langsam eingeflößt wurden, dann machte er langsam die Augen
auf. Nun erinnerte er sich, was geschehen war. Er war mit hundert anderen an
den Rand einer Grube gestellt und von hinten erschossen worden. In den
Sekunden vor dem Schuss lief noch einmal sein ganzes Leben vor ihm ab. Als er
eben eine Schlussfolgerung ziehen wollte, fühlte er den Einschlag der Kugel,
wie einen Knüppel in seinem Rücken und alles wurde schwarz. Wie und wohin er
gefallen war, hatte sein Körper nicht mehr gespürt.
Er hatte doch gerade Wasser
getrunken. Woher kam das? Es regnete nicht. Wieder kam ein bisschen Nass.
Vielleicht blutete er im Mund, trank sein eigenes Blut. Jede Bewegung war
unmöglich, keine Kraft dazu, wie gelähmt. Seine Augen wanderten langsam von
rechts nach links. Fast völlige Dunkelheit um ihn herum, Wolken verdeckten
den Mond. Es kostete ihn unheimliche Kraft, nach unten zu schauen. Nichts.
Für den Blick nach oben war er schon zu schwach. Wieder ein bisschen
Feuchtigkeit in seinem Mund. „Hörst du mich?“ fragte ihn eine Stimme, wie aus
großer Entfernung. Immer wieder fielen ihm die Augenlider zu, aber es wurde
ihm klar, dass er noch lebte, dass die Feuchtigkeit kein Blut war, sondern
Wasser. Jemand flößte es ihm ein, kleine, fast abgemessene Mengen, damit er
sich nicht verschluckte. „Hörst du mich?“ klang wieder die Frage. Sie hob
seinen Kopf ein bisschen und legte den Arm eines anderen Hingerichteten
darunter. Nun sah er eine Frau. Ihr Gesicht war nur etwa einen halben Meter
von seinen Augen entfernt. Er suchte in seinem Gedächtnis, aber kannte sie
nicht. Sie musste gemerkt haben, dass er langsam zu sich kam, deshalb fing
sie an länger zu sprechen. „Heute ist der Geburtstag meines Sohnes.“ Hass
verzerrte ihre Stimme. „Er wäre einundzwanzig Jahre alt geworden. Vor einem
halben Jahr hast du ihn mitgenommen. Ich flehte ihn an, nicht zu gehen, aber
er ließ sich nicht halten. Du hast ihm diesen Blödsinn in den Kopf gesetzt.
Ich betete und weinte, niemand hörte mir zu.“ Sie machte eine kleine Pause.
„Dann kamen die Uniformierten, mitten in der Nacht, zogen mich aus dem Bett,
hoben mich auf einen Lastwagen und zeigten mir einen Toten. Die Taschenlampe
beleuchtete sein Gesicht.“ Sie kämpfte sichtlich mit den Tränen. „Mein Sohn
war tot.“ Sie gab ihm wieder einen kleinen Schluck Wasser. „Warum hast du ihn
mitgenommen? Wolltest du vielleicht nicht allein sterben? Wen interessiert
die Welt? Was ist Freiheit, wenn einer tot ist?“ Nun konnte er die Umrisse
des Gesichts ein bisschen besser erkennen, aber war unfähig, die Lippen zu
bewegen. „Ich habe dir den Tod gewünscht, tausend Qualen vor dem Sterben.“
Sie schüttete ihm den Rest
des Wassers über den Kopf, stand auf und ging weg.
„Autoritäre Systeme
verstecken sich immer hinter Kindern und Mutterherzen.“ dann fielen ihm die
Augenlider zu.
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Sonntag, 12. Juli 2020
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