Sonntag, 12. Juli 2020

Märchen 68 das Schicksal und das Mutterherz
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Das Schicksal und das Mutterherz

Er trank gierig die kleinen Schlucke, die ihm langsam eingeflößt wurden, dann machte er langsam die Augen auf. Nun erinnerte er sich, was geschehen war. Er war mit hundert anderen an den Rand einer Grube gestellt und von hinten erschossen worden. In den Sekunden vor dem Schuss lief noch einmal sein ganzes Leben vor ihm ab. Als er eben eine Schlussfolgerung ziehen wollte, fühlte er den Einschlag der Kugel, wie einen Knüppel in seinem Rücken und alles wurde schwarz. Wie und wohin er gefallen war, hatte sein Körper nicht mehr gespürt.
Er hatte doch gerade Wasser getrunken. Woher kam das? Es regnete nicht. Wieder kam ein bisschen Nass. Vielleicht blutete er im Mund, trank sein eigenes Blut. Jede Bewegung war unmöglich, keine Kraft dazu, wie gelähmt. Seine Augen wanderten langsam von rechts nach links. Fast völlige Dunkelheit um ihn herum, Wolken verdeckten den Mond. Es kostete ihn unheimliche Kraft, nach unten zu schauen. Nichts. Für den Blick nach oben war er schon zu schwach. Wieder ein bisschen Feuchtigkeit in seinem Mund. „Hörst du mich?“ fragte ihn eine Stimme, wie aus großer Entfernung. Immer wieder fielen ihm die Augenlider zu, aber es wurde ihm klar, dass er noch lebte, dass die Feuchtigkeit kein Blut war, sondern Wasser. Jemand flößte es ihm ein, kleine, fast abgemessene Mengen, damit er sich nicht verschluckte. „Hörst du mich?“ klang wieder die Frage. Sie hob seinen Kopf ein bisschen und legte den Arm eines anderen Hingerichteten darunter. Nun sah er eine Frau. Ihr Gesicht war nur etwa einen halben Meter von seinen Augen entfernt. Er suchte in seinem Gedächtnis, aber kannte sie nicht. Sie musste gemerkt haben, dass er langsam zu sich kam, deshalb fing sie an länger zu sprechen. „Heute ist der Geburtstag meines Sohnes.“ Hass verzerrte ihre Stimme. „Er wäre einundzwanzig Jahre alt geworden. Vor einem halben Jahr hast du ihn mitgenommen. Ich flehte ihn an, nicht zu gehen, aber er ließ sich nicht halten. Du hast ihm diesen Blödsinn in den Kopf gesetzt. Ich betete und weinte, niemand hörte mir zu.“ Sie machte eine kleine Pause. „Dann kamen die Uniformierten, mitten in der Nacht, zogen mich aus dem Bett, hoben mich auf einen Lastwagen und zeigten mir einen Toten. Die Taschenlampe beleuchtete sein Gesicht.“ Sie kämpfte sichtlich mit den Tränen. „Mein Sohn war tot.“ Sie gab ihm wieder einen kleinen Schluck Wasser. „Warum hast du ihn mitgenommen? Wolltest du vielleicht nicht allein sterben? Wen interessiert die Welt? Was ist Freiheit, wenn einer tot ist?“ Nun konnte er die Umrisse des Gesichts ein bisschen besser erkennen, aber war unfähig, die Lippen zu bewegen. „Ich habe dir den Tod gewünscht, tausend Qualen vor dem Sterben.“
Sie schüttete ihm den Rest des Wassers über den Kopf, stand auf und ging weg.
„Autoritäre Systeme verstecken sich immer hinter Kindern und Mutterherzen.“ dann fielen ihm die Augenlider zu.



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