Sonntag, 12. Juli 2020

Märchen 66 die neue Bekanntschaft
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Die neue Bekanntschaft

Eine halbe Stunde vor der Abfahrt stand der Zug schon auf dem Gleis. Er suchte sich einen Wagon ganz hinten aus, weil er die Erfahrung gemacht hatte, dass dort weniger Leute einsteigen. Im Zug war noch niemand, also ließ er sich in einem Abteil nieder. Das neue Buch in seiner Tasche wartete darauf, gelesen zu werden. Er packte Kaffee, Kekse und Zigaretten aus, schaltete das Licht ein und machte es sich gemütlich. Was für eine Ruhe! Ein Drittel des Buches könnte beendet werden.
Der Zug fuhr schon eine Stunde. Er kam mit seinem Buch gut voran, vor allem, weil sich niemand in seinem Abteil eingefunden hatte, selbst den Schaffner hatte er nicht bemerkt, als dieser an seiner Tür vorbeiging. Der Beamte kannte ihn schon seit Jahren und wollte ihn nicht beim Lesen stören. Plötzlich öffnete sich seine Tür, er sah auf, das Buch hatte sowieso nicht gehalten, was es versprochen hatte, er hätte noch ein anderes mitnehmen sollen. Er schaute in ein gelangweiltes, aber nicht unschönes Gesicht. Sie ließ sich ihm gegenüber nieder, er machte ihr auf der Ablage Platz, wofür sie sich mit einem dürftigen Kopfnicken bedankte und eine Akte aus der Tasche zog.
Es mussten Verträge sein, sie korrigierte hier und da einige Sätze. Der Stoß auf ihrem Schoß war dick, sie vertiefte sich in ihre Arbeit. Sein Buch war so langweilig, wie ihr Gesicht gelangweilt. Wenn der Zug neben einem Wald vorbeifuhr, der einen dunklen Hintergrund bildete, entstand im Fenster ein Spiegel. Er konnte sie sehen, ohne sie direkt anschauen zu müssen. In diesem undeutlichen Spiegelbild erschien sie geheimnisvoll. Warum hatte sie sich gerade in sein Abteil gesetzt?
Ihr Stift fiel auf den Boden und schnell bückte er sich, um ihn aufzuheben. Als er ihn ihr in die Hand legte, schaute er in ihr trauriges Gesicht. Die ersten Worte lagen ihm auf der Zunge: „Mein Name ist Peter.“ „Laura!“ – antwortete sie. „Sind die Dokumente so langweilig, wie mein Buch, weil ich schon eine ganze Weile aus dem Fenster schaue?“ „Wir sind Meister auf dem Gebiet, die Zeit totzuschlagen!“ „Ich lese eigentlich sehr gern, aber dieses Buch ist nicht gerade das, was ich mir unter seinem Titel und dem Autor vorgestellt hätte.“ „Meine Arbeit füllt einen großen Teil meiner Zeit aus, und dabei bin ich mir nicht immer sicher, ob ich das auch wirklich will.“ Ein Wort gab das andere, ein Gedanke reihte sich an den anderen.
„Arbeitest du viel?“ „Wenn man Karriere machen will, bleibt einem nichts anderes übrig. Und was machst du, wenn du Zeit hast, Bücher nach deinem Geschmack zu lesen, oder dich auf die faule Haut zu legen?“ „Ich bin Schriftsteller.“ „Hm! Ein richtiger Schriftsteller? Was ist bisher von dir erschienen?“ „Ich veröffentliche nicht über Verlage. Auf meinem Blog kann man alles lesen.“ „Aber dadurch verdienst du doch kein Geld, nicht wahr?“ „Solange man unbekannt ist, verdient man auch nichts. Im Allgemeinen verkauft man das Autorenrecht an einen Verlag. Wenn man Glück hat, und noch einen zweiten Kassenschlager schreibt, bekommt man ein wenig mehr. Aber grundsätzlich wird vorgeschrieben, was der Autor komponieren soll. Die Werbung ist sozusagen das Wichtigste! Ein Beispiel aus der Musik: Kennst du Frank Zappa?“ „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich seinen Namen nicht schon einmal gehört habe.“ „Er war einer der größten Musiker des zwanzigsten Jahrhunderts, aber da er zu aufwieglerisch war, versuchte man ihn Mundtot zu machen. Danach gründete er seine eigene Plattenfirma. Leider fehlte ihm natürlich das Verteilernetz. Er hatte keine eigenen Plattengeschäfte oder Zeitungen und Werbefirmen, deshalb ist er eigentlich fast nur unter Liebhabern bekannt.“ „Du möchtest also damit sagen, dass wir auch bei Büchern an der Nase herumgeführt werden und nicht lesen, was wirklich gut ist?“ „Sehr richtig! Trends und Mode werden mehr oder weniger gemacht. Wir sind nur die dummen Verbraucher, die kaufen, was es auf dem Markt gibt. Meist wird irgendetwas hervorgehoben, was dann überall erscheint. Nur sehr selten gelingt es einem wirklichen Talent die Aufmerksamkeit der Firmen- und Medien-Magnate auf sich zu lenken.“ „Also, diese Leute entscheiden deiner Meinung nach, was Qualität darstellen soll.“ „Aber natürlich ist für Anleger und Investoren nur wichtig, wieviel Profit sie daraus ziehen können. Das größte Problem besteht in gewisser Weise darin, dass ein Verbraucher nicht auf allen Gebieten Fachmann sein kann, und deshalb oft nur Gutklingendes oder Gutaussehendes kauft. Du beschäftigst dich mit Verträgen und Recht. Wenn ich jetzt einen Vertrag unterschreibe, habe ich wahrscheinlich das gleiche Problem, wie ein Nicht-Schriftsteller mit Literatur.“
Der Zug hielt, seine Haltestelle. Er stand auf, legte seine Visitenkarte mit der Blogadresse neben sie auf den Sitz und ging hinaus. Sie lächelte dankbar, als wollte sie sagen: „Wie gut, dass du mich nicht angesprochen hast, weil ich so meine Arbeit beenden konnte, die ich für die Besprechung brauche.“



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