Märchen 66 die neue Bekanntschaft
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Die neue Bekanntschaft
Eine halbe Stunde vor der
Abfahrt stand der Zug schon auf dem Gleis. Er suchte sich einen Wagon ganz
hinten aus, weil er die Erfahrung gemacht hatte, dass dort weniger Leute
einsteigen. Im Zug war noch niemand, also ließ er sich in einem Abteil
nieder. Das neue Buch in seiner Tasche wartete darauf, gelesen zu werden. Er
packte Kaffee, Kekse und Zigaretten aus, schaltete das Licht ein und machte
es sich gemütlich. Was für eine Ruhe! Ein Drittel des Buches könnte beendet
werden.
Der Zug fuhr schon eine
Stunde. Er kam mit seinem Buch gut voran, vor allem, weil sich niemand in
seinem Abteil eingefunden hatte, selbst den Schaffner hatte er nicht bemerkt,
als dieser an seiner Tür vorbeiging. Der Beamte kannte ihn schon seit Jahren
und wollte ihn nicht beim Lesen stören. Plötzlich öffnete sich seine Tür, er
sah auf, das Buch hatte sowieso nicht gehalten, was es versprochen hatte, er
hätte noch ein anderes mitnehmen sollen. Er schaute in ein gelangweiltes,
aber nicht unschönes Gesicht. Sie ließ sich ihm gegenüber nieder, er machte
ihr auf der Ablage Platz, wofür sie sich mit einem dürftigen Kopfnicken
bedankte und eine Akte aus der Tasche zog.
Es mussten Verträge sein,
sie korrigierte hier und da einige Sätze. Der Stoß auf ihrem Schoß war dick,
sie vertiefte sich in ihre Arbeit. Sein Buch war so langweilig, wie ihr
Gesicht gelangweilt. Wenn der Zug neben einem Wald vorbeifuhr, der einen
dunklen Hintergrund bildete, entstand im Fenster ein Spiegel. Er konnte sie
sehen, ohne sie direkt anschauen zu müssen. In diesem undeutlichen
Spiegelbild erschien sie geheimnisvoll. Warum hatte sie sich gerade in sein
Abteil gesetzt?
Ihr Stift fiel auf den Boden
und schnell bückte er sich, um ihn aufzuheben. Als er ihn ihr in die Hand
legte, schaute er in ihr trauriges Gesicht. Die ersten Worte lagen ihm auf
der Zunge: „Mein Name ist Peter.“ „Laura!“ – antwortete sie. „Sind die
Dokumente so langweilig, wie mein Buch, weil ich schon eine ganze Weile aus
dem Fenster schaue?“ „Wir sind Meister auf dem Gebiet, die Zeit totzuschlagen!“
„Ich lese eigentlich sehr gern, aber dieses Buch ist nicht gerade das, was
ich mir unter seinem Titel und dem Autor vorgestellt hätte.“ „Meine Arbeit
füllt einen großen Teil meiner Zeit aus, und dabei bin ich mir nicht immer
sicher, ob ich das auch wirklich will.“ Ein Wort gab das andere, ein Gedanke
reihte sich an den anderen.
„Arbeitest du viel?“ „Wenn
man Karriere machen will, bleibt einem nichts anderes übrig. Und was machst
du, wenn du Zeit hast, Bücher nach deinem Geschmack zu lesen, oder dich auf
die faule Haut zu legen?“ „Ich bin Schriftsteller.“ „Hm! Ein richtiger
Schriftsteller? Was ist bisher von dir erschienen?“ „Ich veröffentliche nicht
über Verlage. Auf meinem Blog kann man alles lesen.“ „Aber dadurch verdienst
du doch kein Geld, nicht wahr?“ „Solange man unbekannt ist, verdient man auch
nichts. Im Allgemeinen verkauft man das Autorenrecht an einen Verlag. Wenn
man Glück hat, und noch einen zweiten Kassenschlager schreibt, bekommt man
ein wenig mehr. Aber grundsätzlich wird vorgeschrieben, was der Autor
komponieren soll. Die Werbung ist sozusagen das Wichtigste! Ein Beispiel aus
der Musik: Kennst du Frank Zappa?“ „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich
seinen Namen nicht schon einmal gehört habe.“ „Er war einer der größten
Musiker des zwanzigsten Jahrhunderts, aber da er zu aufwieglerisch war,
versuchte man ihn Mundtot zu machen. Danach gründete er seine eigene
Plattenfirma. Leider fehlte ihm natürlich das Verteilernetz. Er hatte keine
eigenen Plattengeschäfte oder Zeitungen und Werbefirmen, deshalb ist er
eigentlich fast nur unter Liebhabern bekannt.“ „Du möchtest also damit sagen,
dass wir auch bei Büchern an der Nase herumgeführt werden und nicht lesen,
was wirklich gut ist?“ „Sehr richtig! Trends und Mode werden mehr oder
weniger gemacht. Wir sind nur die dummen Verbraucher, die kaufen, was es auf
dem Markt gibt. Meist wird irgendetwas hervorgehoben, was dann überall
erscheint. Nur sehr selten gelingt es einem wirklichen Talent die
Aufmerksamkeit der Firmen- und Medien-Magnate auf sich zu lenken.“ „Also,
diese Leute entscheiden deiner Meinung nach, was Qualität darstellen soll.“
„Aber natürlich ist für Anleger und Investoren nur wichtig, wieviel Profit
sie daraus ziehen können. Das größte Problem besteht in gewisser Weise darin,
dass ein Verbraucher nicht auf allen Gebieten Fachmann sein kann, und deshalb
oft nur Gutklingendes oder Gutaussehendes kauft. Du beschäftigst dich mit
Verträgen und Recht. Wenn ich jetzt einen Vertrag unterschreibe, habe ich
wahrscheinlich das gleiche Problem, wie ein Nicht-Schriftsteller mit
Literatur.“
Der Zug hielt, seine
Haltestelle. Er stand auf, legte seine Visitenkarte mit der Blogadresse neben
sie auf den Sitz und ging hinaus. Sie lächelte dankbar, als wollte sie sagen:
„Wie gut, dass du mich nicht angesprochen hast, weil ich so meine Arbeit
beenden konnte, die ich für die Besprechung brauche.“
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Sonntag, 12. Juli 2020
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