Sonntag, 12. Juli 2020

Märchen 65 Sonntag
Written by Rainer: rainer.lehrer@yahoo.com
Learn languages (via Skype): Rainer: + 36 20 549 52 97 or + 36 20 334 79 74
------------------------------

Sonntag

Schon seit Tagen hatte er sich darauf vorbereitet. Nein, eigentlich schon seit Monaten. Oder noch besser, seit Jahren. Dieser große Tag, an dem er seinen Eintritt in die große Welt und höhere Gesellschaft machen würde.
Bereits mit 7 Jahren, wenn seine Mutter ihn mit dem Müllsack zur Mülltonne schickte, zog er seine besten Schuhe und Hose mit Hemd an, kämmte sich die Haare vor dem Spiegel und versteckte den Sack in seiner Schultasche, damit die Nachbarn es nicht bemerkten.
Deshalb nannten ihn seine Familienmitglieder nur das Sonntagskind. Dieser Spitzname wurde später in Herr Sonntag umgeändert, weil er sich darüber beschwerte, dass man ihn noch immer Kind schimpfte.
Seine Schulfreunde lud er nie zu sich nach Hause ein, weil er sein Zimmer mit seinen Brüdern und Schwestern teilen musste, eigentlich nur ein Bett und einen halben Schrank besaß. Aber da war Ordnung, jedes Kleidungsstück, sogar die Socken und Unterhosen gebügelt und sorgfältig zusammengelegt.
Wenn es in der Schule eine Veranstaltung gab, erwähnte er es zu Hause aus Angst nicht, um zu verhindern, dass jemand aus seiner Familie dort erschien und dadurch jemand im Bildungszentrum erfuhr, woher er wirklich kam, oder wie er tatsächlich lebte. Ja, er schämte sich seiner Herkunft.
Von seinem Onkel, der wegen Betrugs und Hinterziehung im Gefängnis gewesen war, lernte er Tricks, wie man Leuten glauben macht, dass man jemand anders ist, oder jemand anders sei, oder wie man in ihnen Vertrauen erweckt.
Ein Lehrer in der Schule zeigte ihm die Bibliothek und eine Reihe von Büchern, die man unbedingt lesen sollte. Er betrachtete mit großen Augen die langen Regale, schätzte, dass dies ein jahrelanges Studium in Anspruch nehmen würde, und beschloss lieber anderen Leuten zuzuhören, die dies alles für ihn gedanklich zusammenfassen würden. Sein Glück bestand dann im Allgemeinen darin, dass die meisten, mit denen er in Kontakt trat, noch weniger als er gelesen hatten und deshalb nicht kontrollieren konnten, ob es wirklich stimmte, was er von sich gab.
Schnell lernte er, dass es nützlich war, sich den mächtigen zu nähern, weil da früher oder später immer ein paar Krümel abfielen. Aber wo fand man diese reichen, einflussreichen Leute? Natürlich in der Kirche, wo der Pfarrer auch sofort Ratschläge gab, welche politische Partei zu wählen sei. Mit Kokarde am Anzug spielte er einmal die Woche den Andächtigen.
Mit fortschreitendem Alter wurde in ihm auch der Wunsch wach, das Gefühl eines Mannes zu erproben. Er war aber zu geizig, Geld und Zeit in eine Bekanntschaft mit einer Frau zu investieren, dass sich keine finden ließ. Bei den Mädchen seines eigenen Standes hätte er wahrscheinlich bessere Aussichten gehabt, wenn er nicht auf sie herabgeschaut hätte. Deshalb fand er sich, je nach dem, was sein Geldbeutel erlaubte, inkognito im Freudenhaus ein.
Und heute an diesem großen Tag sollte er endlich ans Licht der Öffentlichkeit treten. Man hatte ihn gebeten, bei der Eröffnung des neuen Stadions im Vorgarten des Führers, die Schere zu halten, mit der das Oberhaupt das Band zum Eingang zerschnitt.



-----------------------------------------------
--------------------------------------------------
-------------------------------------------------
---------------------------------------------------

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen