Märchen 65 Sonntag
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Sonntag
Schon seit Tagen hatte er
sich darauf vorbereitet. Nein, eigentlich schon seit Monaten. Oder noch
besser, seit Jahren. Dieser große Tag, an dem er seinen Eintritt in die große
Welt und höhere Gesellschaft machen würde.
Bereits mit 7 Jahren, wenn
seine Mutter ihn mit dem Müllsack zur Mülltonne schickte, zog er seine besten
Schuhe und Hose mit Hemd an, kämmte sich die Haare vor dem Spiegel und
versteckte den Sack in seiner Schultasche, damit die Nachbarn es nicht
bemerkten.
Deshalb nannten ihn seine
Familienmitglieder nur das Sonntagskind. Dieser Spitzname wurde später in
Herr Sonntag umgeändert, weil er sich darüber beschwerte, dass man ihn noch
immer Kind schimpfte.
Seine Schulfreunde lud er
nie zu sich nach Hause ein, weil er sein Zimmer mit seinen Brüdern und
Schwestern teilen musste, eigentlich nur ein Bett und einen halben Schrank
besaß. Aber da war Ordnung, jedes Kleidungsstück, sogar die Socken und
Unterhosen gebügelt und sorgfältig zusammengelegt.
Wenn es in der Schule eine
Veranstaltung gab, erwähnte er es zu Hause aus Angst nicht, um zu verhindern,
dass jemand aus seiner Familie dort erschien und dadurch jemand im
Bildungszentrum erfuhr, woher er wirklich kam, oder wie er tatsächlich lebte.
Ja, er schämte sich seiner Herkunft.
Von seinem Onkel, der wegen
Betrugs und Hinterziehung im Gefängnis gewesen war, lernte er Tricks, wie man
Leuten glauben macht, dass man jemand anders ist, oder jemand anders sei,
oder wie man in ihnen Vertrauen erweckt.
Ein Lehrer in der Schule
zeigte ihm die Bibliothek und eine Reihe von Büchern, die man unbedingt lesen
sollte. Er betrachtete mit großen Augen die langen Regale, schätzte, dass
dies ein jahrelanges Studium in Anspruch nehmen würde, und beschloss lieber
anderen Leuten zuzuhören, die dies alles für ihn gedanklich zusammenfassen
würden. Sein Glück bestand dann im Allgemeinen darin, dass die meisten, mit
denen er in Kontakt trat, noch weniger als er gelesen hatten und deshalb
nicht kontrollieren konnten, ob es wirklich stimmte, was er von sich gab.
Schnell lernte er, dass es
nützlich war, sich den mächtigen zu nähern, weil da früher oder später immer
ein paar Krümel abfielen. Aber wo fand man diese reichen, einflussreichen
Leute? Natürlich in der Kirche, wo der Pfarrer auch sofort Ratschläge gab,
welche politische Partei zu wählen sei. Mit Kokarde am Anzug spielte er einmal
die Woche den Andächtigen.
Mit fortschreitendem Alter
wurde in ihm auch der Wunsch wach, das Gefühl eines Mannes zu erproben. Er
war aber zu geizig, Geld und Zeit in eine Bekanntschaft mit einer Frau zu
investieren, dass sich keine finden ließ. Bei den Mädchen seines eigenen
Standes hätte er wahrscheinlich bessere Aussichten gehabt, wenn er nicht auf
sie herabgeschaut hätte. Deshalb fand er sich, je nach dem, was sein
Geldbeutel erlaubte, inkognito im Freudenhaus ein.
Und heute an diesem großen
Tag sollte er endlich ans Licht der Öffentlichkeit treten. Man hatte ihn
gebeten, bei der Eröffnung des neuen Stadions im Vorgarten des Führers, die
Schere zu halten, mit der das Oberhaupt das Band zum Eingang zerschnitt.
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Sonntag, 12. Juli 2020
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