Märchen 60 nur ein Märchen
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Nur ein Märchen
Er saß an seinem gewohnten
Platz hinter einem Baum und wartete. Irgendwann müsste sie kommen!
Viel behaarter war er, als
andere. Nicht nur seine Brust, sein Rücken, sondern auch seine Hände und ein
großer Teil des Gesichts waren so mit Haaren bedeckt, dass seine Haut kaum
sichtbar unter der dichten Haarschicht verschwand. Deshalb nannte man ihn nur
den „Wolf“. Seines Aussehens wegen war er schon in der Schule ausgeschieden
worden. Und weil keiner neben ihm sitzen wollte, hatte er sich in die
Literatur vertieft. Anonym schrieb er an verschiedenste Zeitungen, um seine
Gedichte, Geschichten und andere Texte zu veröffentlichen. Aber niemand, der
sie las, wusste eigentlich, wie er aussah.
Er liebte den Wald,
studierte, las und schrieb hier. Manchmal setzte sich ein kleines Vöglein auf
seinen Fuß oder ein Reh kam, um aus der kleinen Quelle zu trinken, in dessen
unmittelbaren Nähe er zu sitzen pflegte. Sonst war er Nachtwächter auf einem
Fabrikgelände. Vielleicht hatte man gedacht, dass er alle abschrecken würde,
die versuchten, einzubrechen.
Schon Jahre lang hatte er in
dieser idyllischen aber einsamen Stelle gesessen, gelesen und geschrieben,
als sie einmal an die Quelle gekommen war, um zu trinken, wie ein Reh. Zuerst
hatten sie sich gar nicht bemerkt, er, weil er gedankenversunken schrieb und
sie, weil sie des kühlen Nasses bedurfte. So tief erlebte er seine eigene
Geschichte, dass er erst aufschaute, als sich ein Schrei hören ließ. Sie
wollte fortlaufen, als sie ihn erblickte, aber da er sich nicht rührte,
anscheinend kein Interesse an ihr nahm und einfach weiterschrieb, blieb sie
unentschlossen stehen. Er sah furchterregend aus, doch seine Augen strahlten
warm. Sie fühlte, dass die versteckte Quelle mitten im Wald sein Platz war,
er schon vor ihr dagewesen war, und nicht er sie, sondern sie seine Ruhe
gestört hatte. Sie räusperte sich ein bisschen, als wollte sie um Erlaubnis
bitten, vorsprechen zu dürfen. Endlich sah er wie in Gedanken verloren auf.
Sie fasste allen Mut zusammen und fragte: „Kann ich bleiben?“ Er blickte sie
an, sie war schön, sehr schön und ihre Augen waren warm. In der Regel hatte
er keinen Kontakt zu Frauen, weil sie vor ihm Angst hatten. Er gab ihr zu
verstehen, dass sie sich nähern könne.
Langsam, Schritt für Schritt
legte sie die Entfernung zwischen ihm und sich selbst zurück. Neben ihm war
auf dem Baumstamm noch ein bisschen Platz und jetzt sah sie und las, was er
schrieb. Es ging um ein Mädchen, das im Wald an einer Quelle einen
wolfsähnlich behaarten Mann traf. Die ganze Sache wurde ihr immer
geheimnisvoller. Als er dann einmal aufsah, um nachzudenken, sprach sie ihn
an und er erzählte, was er schrieb oder schon verfasst hatte. Mit großen
Augen folgte sie seinen Worten. Lange hatte er gesprochen und es war dunkel
geworden. Er musste zu Arbeit gehen. Er stand auf. Die ganze Zeit hatte sie
nichts gesagt, nur zugehört, jetzt fragte sie, ob er öfter hier sei. Er
entgegnete mit einem Nicken und jeden Tag.
Drei Wochen war sie seither
gekommen, einmal hatte sie sogar auf ihn gewartet. Nun legte sie ihre Hand
auf seinen Unterarm.
Das war am Vortag passiert
und jetzt wartete er, aber sie kam nicht mehr. Vielleicht war sie einem
anderen Wolf zum Opfer gefallen.
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Freitag, 10. Juli 2020
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