Freitag, 10. Juli 2020

Märchen 60 nur ein Märchen
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Nur ein Märchen

Er saß an seinem gewohnten Platz hinter einem Baum und wartete. Irgendwann müsste sie kommen!
Viel behaarter war er, als andere. Nicht nur seine Brust, sein Rücken, sondern auch seine Hände und ein großer Teil des Gesichts waren so mit Haaren bedeckt, dass seine Haut kaum sichtbar unter der dichten Haarschicht verschwand. Deshalb nannte man ihn nur den „Wolf“. Seines Aussehens wegen war er schon in der Schule ausgeschieden worden. Und weil keiner neben ihm sitzen wollte, hatte er sich in die Literatur vertieft. Anonym schrieb er an verschiedenste Zeitungen, um seine Gedichte, Geschichten und andere Texte zu veröffentlichen. Aber niemand, der sie las, wusste eigentlich, wie er aussah.
Er liebte den Wald, studierte, las und schrieb hier. Manchmal setzte sich ein kleines Vöglein auf seinen Fuß oder ein Reh kam, um aus der kleinen Quelle zu trinken, in dessen unmittelbaren Nähe er zu sitzen pflegte. Sonst war er Nachtwächter auf einem Fabrikgelände. Vielleicht hatte man gedacht, dass er alle abschrecken würde, die versuchten, einzubrechen.
Schon Jahre lang hatte er in dieser idyllischen aber einsamen Stelle gesessen, gelesen und geschrieben, als sie einmal an die Quelle gekommen war, um zu trinken, wie ein Reh. Zuerst hatten sie sich gar nicht bemerkt, er, weil er gedankenversunken schrieb und sie, weil sie des kühlen Nasses bedurfte. So tief erlebte er seine eigene Geschichte, dass er erst aufschaute, als sich ein Schrei hören ließ. Sie wollte fortlaufen, als sie ihn erblickte, aber da er sich nicht rührte, anscheinend kein Interesse an ihr nahm und einfach weiterschrieb, blieb sie unentschlossen stehen. Er sah furchterregend aus, doch seine Augen strahlten warm. Sie fühlte, dass die versteckte Quelle mitten im Wald sein Platz war, er schon vor ihr dagewesen war, und nicht er sie, sondern sie seine Ruhe gestört hatte. Sie räusperte sich ein bisschen, als wollte sie um Erlaubnis bitten, vorsprechen zu dürfen. Endlich sah er wie in Gedanken verloren auf. Sie fasste allen Mut zusammen und fragte: „Kann ich bleiben?“ Er blickte sie an, sie war schön, sehr schön und ihre Augen waren warm. In der Regel hatte er keinen Kontakt zu Frauen, weil sie vor ihm Angst hatten. Er gab ihr zu verstehen, dass sie sich nähern könne.
Langsam, Schritt für Schritt legte sie die Entfernung zwischen ihm und sich selbst zurück. Neben ihm war auf dem Baumstamm noch ein bisschen Platz und jetzt sah sie und las, was er schrieb. Es ging um ein Mädchen, das im Wald an einer Quelle einen wolfsähnlich behaarten Mann traf. Die ganze Sache wurde ihr immer geheimnisvoller. Als er dann einmal aufsah, um nachzudenken, sprach sie ihn an und er erzählte, was er schrieb oder schon verfasst hatte. Mit großen Augen folgte sie seinen Worten. Lange hatte er gesprochen und es war dunkel geworden. Er musste zu Arbeit gehen. Er stand auf. Die ganze Zeit hatte sie nichts gesagt, nur zugehört, jetzt fragte sie, ob er öfter hier sei. Er entgegnete mit einem Nicken und jeden Tag.
Drei Wochen war sie seither gekommen, einmal hatte sie sogar auf ihn gewartet. Nun legte sie ihre Hand auf seinen Unterarm.
Das war am Vortag passiert und jetzt wartete er, aber sie kam nicht mehr. Vielleicht war sie einem anderen Wolf zum Opfer gefallen.



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