Märchen 64 woher kommst du?
Learn languages (via Skype): Rainer: + 36 20 549 52 97 or + 36 20 334 79
74
|
------------------------------
|
Woher kommst du?
Dieses verdammte Dorf am
Ende der Welt, diese armen, betrunkenen Bauern und Zigeuner. Warum hatte sie
sich bereit erklärt, hierher zu kommen? Es war die Bitte ihres Professors
gewesen. Nur mit Unwillen hatte sie ihre Zustimmung gegeben. Aber sie hasste
es, jeden Tag, jede Unterrichtsstunde. Es gab hier, hinter dem Mond nicht
einmal ein Buchgeschäft. Der Pfarrer predigte am Sonntag nur Blödsinn und
machte danach ihr, der Dorflehrerin, den Hof. Es gab hier kein Leben, es war
das tiefste Mittelalter. Aber sie hielt durch, nicht weil sie es wollte,
sondern weil sie es ihren Vorbildern, ihren Lehrern und Unterstützern
versprochen hatte, in der Hoffnung, dass auch sie irgendwann an der
Universität lehren würde. Jetzt war sie dreißig und schon ließen sich die ersten
Falten in ihrem Gesicht sehen.
Und schon wieder hatte einer
dieser Schüler etwas gemacht, was die Lehrerin ganz aus der Fassung brachte.
Sie schrie und befahl dem Kind zum Pult zu kommen, um es furchtbar zu
bestrafen. Langsam und zitternd kam es nach vorn. In der ganzen Klasse war es
totenstill. Alle warteten auf den nahenden Weltuntergang, weil sie sahen, wie
es in der Lehrerin stürmte. Als das Kleine vor ihr eintraf, legte es
schützend die kleinen Hände vors Gesicht. Die Sekunden wurden lang, irgendetwas
Unerwartetes geschah. Die Lehrerin setzte sich hin und sah mit leeren Augen
in die Ecke. Was ihr jetzt durch den Kopf ging, konnte niemand ahnen. Sie sah
sich selbst.
Als kleines Mädchen mit
kleinen Händen zum Schutz vor dem Gesicht und am ganzen Körper zitternd, weil
sie vor dem Lehrer Angst hatte. Aber er hatte sie nicht bestraft, sondern sah
sie an und sagte zu ihr, dass sie am Nachmittag zu ihm kommen solle. Beim
ersten Treffen war es ihr ziemlich bange. Während die anderen draußen im Hof
spielten, musste sie hier mit dem Lehrer lernen. Es schien ihr wie eine
Strafe. Langsam verstand sie den Lehrstoff, wurde nach zwei Jahren die Beste
in der Klasse, ging dann aufs Gymnasium und in eine Klasse zu einem Lehrer,
zu dem ihr erster Klassenlehrer sie geschickt hatte. Dieser lernte mit ihr
weiter, dann an die Universität, wieder zu einem Professor, zu dem der zweite
Klassenlehrer im Gymnasium sie geschickt hatte. Und dann wurde auch sie
Lehrerin.
Aber bis heute, bis zu
diesem Augenblick hatte sie nicht verstanden, warum diese Lehrer das mit ihr
gemacht hatten, warum sie ihre Zeit für sie geopfert hatten, was sie von ihr
erwarteten. Es war ihr ein Rätsel, warum sie gerade von ihren Unterstützern
gebeten worden war, ihre Zeit hinter dem Mond zu verbringen. War sie nicht
gut genug, unter Akademikern an der Universität zu unterrichten und
großartige Dinge zu vollbringen?
Dies alles ging ihr jetzt
durch den Kopf, als das ängstliche Kind vor ihr stand. Genauso eines war sie
selbst gewesen. Auch sie hatte eine Starthilfe gebraucht. Oder vielleicht war
es die Geschichte ihrer Mutter, Großmutter oder Urgroßmutter. Irgendeiner
hatte damit angefangen und die Zukunft für die nächste Generation geschaffen.
Es hörte sich an, wie ein schlechter Roman aus kommunistischen Glanzzeiten.
Dabei war es nur Menschlichkeit. In der Bibel könnte auch nichts Besseres
stehen. Jetzt war es ihr klar.
|
-----------------------------------------------
|
--------------------------------------------------
|
-------------------------------------------------
|
---------------------------------------------------
|
|
Samstag, 11. Juli 2020
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen