Samstag, 11. Juli 2020

Märchen 64 woher kommst du?
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Woher kommst du?

Dieses verdammte Dorf am Ende der Welt, diese armen, betrunkenen Bauern und Zigeuner. Warum hatte sie sich bereit erklärt, hierher zu kommen? Es war die Bitte ihres Professors gewesen. Nur mit Unwillen hatte sie ihre Zustimmung gegeben. Aber sie hasste es, jeden Tag, jede Unterrichtsstunde. Es gab hier, hinter dem Mond nicht einmal ein Buchgeschäft. Der Pfarrer predigte am Sonntag nur Blödsinn und machte danach ihr, der Dorflehrerin, den Hof. Es gab hier kein Leben, es war das tiefste Mittelalter. Aber sie hielt durch, nicht weil sie es wollte, sondern weil sie es ihren Vorbildern, ihren Lehrern und Unterstützern versprochen hatte, in der Hoffnung, dass auch sie irgendwann an der Universität lehren würde. Jetzt war sie dreißig und schon ließen sich die ersten Falten in ihrem Gesicht sehen.
Und schon wieder hatte einer dieser Schüler etwas gemacht, was die Lehrerin ganz aus der Fassung brachte. Sie schrie und befahl dem Kind zum Pult zu kommen, um es furchtbar zu bestrafen. Langsam und zitternd kam es nach vorn. In der ganzen Klasse war es totenstill. Alle warteten auf den nahenden Weltuntergang, weil sie sahen, wie es in der Lehrerin stürmte. Als das Kleine vor ihr eintraf, legte es schützend die kleinen Hände vors Gesicht. Die Sekunden wurden lang, irgendetwas Unerwartetes geschah. Die Lehrerin setzte sich hin und sah mit leeren Augen in die Ecke. Was ihr jetzt durch den Kopf ging, konnte niemand ahnen. Sie sah sich selbst.
Als kleines Mädchen mit kleinen Händen zum Schutz vor dem Gesicht und am ganzen Körper zitternd, weil sie vor dem Lehrer Angst hatte. Aber er hatte sie nicht bestraft, sondern sah sie an und sagte zu ihr, dass sie am Nachmittag zu ihm kommen solle. Beim ersten Treffen war es ihr ziemlich bange. Während die anderen draußen im Hof spielten, musste sie hier mit dem Lehrer lernen. Es schien ihr wie eine Strafe. Langsam verstand sie den Lehrstoff, wurde nach zwei Jahren die Beste in der Klasse, ging dann aufs Gymnasium und in eine Klasse zu einem Lehrer, zu dem ihr erster Klassenlehrer sie geschickt hatte. Dieser lernte mit ihr weiter, dann an die Universität, wieder zu einem Professor, zu dem der zweite Klassenlehrer im Gymnasium sie geschickt hatte. Und dann wurde auch sie Lehrerin.
Aber bis heute, bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht verstanden, warum diese Lehrer das mit ihr gemacht hatten, warum sie ihre Zeit für sie geopfert hatten, was sie von ihr erwarteten. Es war ihr ein Rätsel, warum sie gerade von ihren Unterstützern gebeten worden war, ihre Zeit hinter dem Mond zu verbringen. War sie nicht gut genug, unter Akademikern an der Universität zu unterrichten und großartige Dinge zu vollbringen?
Dies alles ging ihr jetzt durch den Kopf, als das ängstliche Kind vor ihr stand. Genauso eines war sie selbst gewesen. Auch sie hatte eine Starthilfe gebraucht. Oder vielleicht war es die Geschichte ihrer Mutter, Großmutter oder Urgroßmutter. Irgendeiner hatte damit angefangen und die Zukunft für die nächste Generation geschaffen. Es hörte sich an, wie ein schlechter Roman aus kommunistischen Glanzzeiten. Dabei war es nur Menschlichkeit. In der Bibel könnte auch nichts Besseres stehen. Jetzt war es ihr klar.



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