Märchen 74 Traum oder Wirklichkeit?
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Traum oder Wirklichkeit?
Er kannte sie schon sehr lange, sie waren
zusammen in die Schule gegangen. Sie in die Mädchenklasse und er in die der
Jungs.
Sie hatten besprochen, einen kleinen Ausflug mit
dem Fahrrad zu machen. Er sollte die Fahrräder besorgen und sie die feinen
Happen. Und so wartete er nun am geheimen Treffpunkt am Rande des Waldes.
Ungeduldig! Würde sie kommen?
Ihre Eltern sahen es nicht gern, dass sie sich
trafen, vor allem, weil er arm war. Aber seitdem sie erfahren hatten, dass er
Theologie studieren wolle, um Pfarrer zu werden, hatten sie sich beruhigt,
weil er als Katholik sowieso nicht heiraten konnte. „Aber warum will er sie
dann treffen?“ – war die Frage ihrer Eltern, auch seine Familie verstand es
nicht. Und wenn er Marie, mit dem heiligen Namen, von seinen Plänen erzählte,
wurde sie ein bisschen eifersüchtig, dass Gott für ihn wichtiger als sie war.
Aber seine Sorge war umsonst, sie kam pünktlicher
als die Kirchenuhr. Denn letztere schlug manchmal 5 oder 10 Minuten zu spät,
vereinzelt auch gar nicht, abhängig davon, wie betrunken der Dorfpfarrer eben
war. „Willst du auch so einer werden?“ – fragte sie ihn dann vorwurfsvoll.
Sehnsüchtig schlang sie ihre Arme um seinen Hals
und er streichelte zärtlich ihr Haar, das lang über ihre Schultern bis zu den
Hüften fiel. Ja, er liebte sie mehr als Gott, viel tiefer. Aber um Gott
musste er nicht gegen ehrgeizige Eltern kämpfen, die ihre Tochter nicht mit
irgendeinem Dahergelaufenen verheiraten wollten.
Sie fuhr voraus, als wollte sie um die Wette
fahren. Oder konnte sie es nicht mehr erwarten, in den Wald zu kommen, wo sie
vor störenden Blicken verschont waren. Wild flog ihr langes Haar im Wind. Er
begehrte sie, wie ein Mann sich nach einer Frau sehnt.
Schließlich kamen sie an eine kleine Lichtung mit
einer Quelle. Zielstrebig ging sie auf einen bestimmten Ort zu, sie musste
ihn schon kennen, legte die Decke aus, stellte das Essen und Trinken darauf
und lud ihn ein, sich neben ihr niederzulassen. Die Decke war nicht groß,
vielleicht absichtlich, so dass sie sich an mehreren Stellen berührten, fast
aneinander schmiegten. Sie machte kleine Happen und fütterte ihn, er ließ
sich verwöhnen, oder umsorgen, oder bemuttern, oder einfach lieben. Er war
nicht der Mensch, der sich gerne widersetzte.
Manchmal verschmierte sie auch absichtlich ein
bisschen Speise um seinen Mund, um es mit einem Zungenkuss abzulecken. Immer
wilder wurden diese kleinen Spielchen, bis sie sich schließlich langsam die
Kleider vom Leib gezerrt hatten, um sich gegenseitig ins Paradies zu
schicken.
Mehrmals noch tranken sie an diesem wunderschönen
Tag voneinander.
Auf der Rückfahrt waren sie dann still. So ein
Geschehnis war nicht das Erste gewesen, aber jetzt sollte es für eine Zeit
das Letzte gewesen sein. Als ihre Siedlung in Sicht kam, hielt sie an. Sie
wollte sich noch einmal in seine Arme werfen, weil sie wusste, dass es für
lange Zeit, oder vielleicht für immer das letzte Mal war.
Danach ging sie los, zu Fuß, er wartete noch ein
bisschen, bevor er zuerst mit dem einen Fahrrad und dann später mit dem
anderen zurückfuhr. Keiner sollte erfahren, dass sie sich getroffen hatten.
Und sie hatte mitgemacht.
Als sie sich umdrehte, standen ihr die Tränen in
den Augen. Jetzt weinte auch er, wie ein Kind. Was sollte er tun?
Er wachte auf und saß auf seiner Bank im
Klostergarten im Schatten des Baumes, den er selbst 50 Jahre vorher gepflanzt
hatte, und dankte Gott, dass er ihn auch diese schönste Seite des Lebens
hatte kennenlernen lassen.
Einige Brüder kamen vorbei, um ihn zu suchen,
weil er nicht beim nachmittäglichen Gebet erschienen war. Er hatte ein
sonderbar zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht. „Wahrscheinlich hat er Gott in
seiner Herrlichkeit gesehen!“ – dachten die Dummen. Aber die meisten wussten,
dass er auf Erden noch einmal glücklich gewesen war.
Aber was wäre passiert, hätte er weitergeträumt?
Oder hatte er diesen Teil absichtlich verdrängt?
Seinen Brüdern und Schwestern war er als absolut
keusch und moralisch bekannt. Jungfrau Maria in männlicher Gestalt, und dazu
noch weise. Kam denn keiner auf die Idee, darüber nachzudenken, woher diese
Fähigkeit, sich in die Situation anderer hineinzuversetzen, gekommen war?
Gibt es doch Dinge, die man erleben muss, und nicht aus Büchern lernen kann?
Sehr oft hatte er ihnen Ratschläge gegeben, zerstrittene Paare wieder
zusammengeführt.
Ja, manchmal träumte er auch weiter, wie er sie
traf, als er schon Geistlicher und sie verheiratet war, oder von anderen
kleineren Liebeleien. Aber nicht heute! Heute wollte er einfach glücklich
sein, wie jeder andere Sündige.
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Donnerstag, 6. August 2020
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