Märchen 94 Psychose Written by Rainer: rainer.lehrer@yahoo.com Learn languages (via Skype): Rainer: + 36 20 549 52 97 or + 36 20 334
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Psychose Er wartete noch, bis er die Sonne genau hinter
sich fühlte und sein Schatten einen dünnen Strich durch die Menge machte,
dann sah er hinunter auf die, die dort warteten. Sie hatten sich am Fuß der
Pyramide versammelt und von dort sah optisch alles so aus, als wäre sie eine
Treppe in den glühenden Himmelskörper. Jetzt breitete er seine Arme aus und
rief mit gewaltiger Stimme: „Seht in die Sonne! Erkennt ihr die Macht Gottes?
Ich gehe in sie hinein und wenn ich zurückgekommen bin, verkünde ich euch den
Willen des Sonnengottes.“ Darauf verschwand er für kurze Zeit, dies durfte
aber nicht zu lange dauern, er musste wieder zu ihnen sprechen, bevor die
Sonne weitergewandert war, oder besser gesagt, bevor die Erde sich
weitergedreht hatte, aber das wusste weder er, noch die Gläubigen da unten,
die sich vor Angst fast in ihre Lendenschurz machten. „Wissen ist Macht!“ – dachte er sich, als er
ausrechnete, an welchem Tag und zu welcher Stunde der Mond die Sonne
verstecken würde. Und genau für diesen Zeitpunkt musste er die Zeremonie
bestellen, um dem Volk zu zeigen, dass der Oberpriester göttlicher war, als
der Pharao. Der Sohn Gottes hatte es nämlich gewagt, Hand an den religiösen
Orden zu legen, um dessen Einfluss auf die Gläubigen zu schwächen. Und dafür
sollte er nun bestraft werden. Was aber dieser Gelehrte in seiner
Allwissenheit auch im Geringsten nicht ahnte, war, dass der Oberpriester nach
Ablauf des Putsches ihn töten lassen würde, damit er sein Geheimnis nicht
würde ausplaudern können. Schon beim Bau der Kirche hatte man daran gedacht,
den Eingang am westlichen Ende und die Sakristei gegenüber am östlichen Ende
des Kirchenschiffes anzulegen. Wenn am Sonntag zwischen 9 und 10 Uhr die
Messe stattfand, stand die Sonne, die alle im Gebäude blenden sollte, genau
hinter dem Priester, so dass er während der Predigt ruhig in der Nase hätte
bohren können, weil das sowieso keiner hätte sehen können. Schien die Sonne
einmal nicht, wurden in der Sakristei Tausend Kerzen angezündet, und weil in
diesem Ende der Kirche alles aus Gold und Silber oder wenigstens vergoldet
war, spiegelte sich das Licht so sehr, dass es sogar die Sonne ersetzte. Und
um die Horrorstimmung noch zu steigern, begann plötzlich hinter den Leuten
die Orgel ein ohrenbetäubendes Getön. Hatten die armen Gläubigen dies alles
überstanden, schrie der Priester aus voller Kehle, dass sie alle nur Sünder
sind, aber durch Zahlung einer Buße an die Kirche ihre Seele vor dem Teufel
retten könnten, der schon vor der Tür dieses Gebäudes auf sie warte. Zehntausende warteten schon auf dem großen Platz,
Fahnen des Landes und der verschiedenen Verbände, die eingeladen worden
waren, oder an der Organisation der Veranstaltung mitgeholfen hatten, schmückten
die Tribüne und die Häuser um den Platz. Mit Fanfaren und Trompeten wird die
Ankunft des Führers angekündigt. Lauter Beifall lässt sich hören. Seine Rede
beginnt. Er preist den Krieg und ruft die Zuhörer auf, bestimmte Volksgruppen
zu hassen. Große Zustimmung und Applaus folgen seinen Worten. Nie beantwortet er Fragen, aber hat ein Gefühl
dafür, was die Leute hören wollen und wohin sie sich führen lassen möchten.
„Einzeln sind wir besiegbar, aber zusammen sind wir stark!“ – lautet einer
seiner Leitsprüche, oder: „Wir sind alle gleich und haben das gleiche Ziel!
Individualismus ist schlecht!“ Er erklärt, dass er sein Volk von der (nicht
existierenden) Unterdrückung befreien werde. Diese Erniedrigung komme von
außen, deshalb müssten alle ihm gehorchen, um nicht anderen gehorchen zu
müssen. Küsst seine Füße, denn sie stinken weniger, als die anderer! Unterdrückt
die Kleineren, denn sie können sich nicht wehren! |
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